Krieg in der Ukraine: Lend-Lease und die US-Räder der Roten Armee (2024)

Putin verspricht seinem Volk einen Sieg in der Ukraine, wie 1945 gegen die Nazis. Er missachtet dabei ein wichtiges Detail: Moskau verdankte damals seinen Triumph auch amerikanischen Waffenlieferungen. Eine Neuauflage des damaligen Gesetzes hilft heute Kiew.

Christian Weisflog, Washington

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Um seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu rechtfertigen und sein Volk zu mobilisieren, beschwört Wladimir Putin eine Wiederholung der Geschichte. An der Militärparade zum Tag des Sieges im Grossen Vaterländischen Krieg am 9.Mai sprach der russische Diktator zu seinen Soldaten in der Ukraine: «Ihr kämpft für die Heimat, für ihre Zukunft, damit niemand die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg vergisst, damit es in der Welt keinen Platz für Henker, Strafkommandos und Nazis gibt.»

«Ihr verteidigt, wofür eure Väter, Grossväter und Urgrossväter gekämpft haben», schärfte Putin seinem Publikum ein. «Sie sind die Generation der Sieger, wir werden immer zu ihnen aufschauen.» Nur kurz erwähnte der Kremlchef in seiner Rede, dass Moskau seinen Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht allein errungen hat. «Wir ehren die Krieger aller verbündeten Armeen – Amerikaner, Briten, Franzosen.» Putin folgt damit einer langen sowjetischen Tradition: Die Hilfe der westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg – insbesondere die umfassenden Waffen- und Warenlieferungen aus den USA – wird höchstens am Rande erwähnt.

Die Sowjets reden die Hilfe der USA klein

Ilya Grinberg stammt aus Lwiw in der Westukraine, studierte in Moskau und wanderte nach dem Zerfall der Sowjetunion in die USA aus. Unter kommunistischer Herrschaft sei die amerikanische Unterstützung im Zweiten Weltkrieg entweder kleingeredet oder verschwiegen worden, erinnert sich Grinberg im Gespräch. «Aber das machte das Thema umso interessanter. Warum spricht niemand darüber?» Es habe keine ehrlichen Bewertungen gegeben, die Archive seien verschlossen gewesen, und dennoch habe man davon gehört: «In den siebziger Jahren arbeitete ich mit einem Kollegen, dessen Bruder im Krieg eine amerikanische P-39 Airacobra flog.»

Heute ist Grinberg Professor für Elektrotechnik am Buffalo State College. Nebenbei hat er ein Buch über die sowjetische Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg geschrieben und eine Website über die amerikanische Lend-Lease-Hilfe für Moskau aufgebaut. Mit der «Lend-Lease Act» (Leih- und Pachtgesetz) vom 11.März 1941 eilten die USA im Zweiten Weltkrieg zunächst vor allem Grossbritannien zu Hilfe. Die britische Regierung hatte damals Washington mitgeteilt, dass der Kampf gegen die Achsenmächte sie in den Bankrott treibe und sie nicht mehr für Waffenlieferungen bezahlen könne.

Das Gesetz ermächtigte Präsident Franklin Roosevelt, jedes Land zu einem später fälligen Preis mit Rüstungsgütern zu versorgen, das er als lebenswichtig für die nationale Sicherheit der USA erachtete. Die USA waren noch nicht in den Zweiten Weltkrieg eingetreten. Im Wahlkampf hatte Roosevelt 1940 versprochen: «Ich sage es immer wieder, eure Söhne werden in keinen Krieg geschickt.» Doch verstärkte Waffenlieferungen schienen dem amerikanischen Präsidenten nun zwingend.

Um die Isolationisten im Kongress zu überzeugen, verglich Roosevelt das Lend-Lease-Gesetz mit einem Gartenschlauch, den man einem Nachbarn ausleiht, um ein Feuer zu löschen: «Ich will meinen Gartenschlauch zurück, wenn das Feuer gelöscht ist.» Roosevelt rechtfertigte das Gesetz zudem mit der weltweiten Verteidigung der Freiheit: «Wir müssen das grosse Waffenlager der Demokratie sein. Diese Notlage ist für uns so ernst wie ein Krieg selbst.»

Trotzdem schloss seine Administration im November 1941 auch ein Lend-Lease-Abkommen mit dem totalitären Regime in Moskau ab. Bis zum Ende des Krieges lieferten die USA Waffen, Maschinen, Rohstoffe und Nahrungsmittel im Wert von über 11 Milliarden Dollar an die Sowjetunion. Über vier verschiedene und teilweise gefährliche Routen gelangten die Güter an ihr Ziel: über Alaska und die Beringstrasse, über das Nordmeer und die Barentssee nach Murmansk oder Archangelsk, über den Nordpazifik und über Iran. «Es war eine globale Operation», sagt Grinberg.

Die amerikanischen Räder der Roten Armee

Sowjetische Berichte und Geschichtsbücher bewerteten den Beitrag der USA kurz nach dem Kriegsende jedoch als gering. Er habe keinen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang des Grossen Vaterländischen Krieges gehabt, lautete das Fazit. Die Grundlage für eine solche Bewertung bildete ein Vergleich zwischen dem Gesamtwert der amerikanischen Lieferungen und dem sowjetischen Kriegsaufwand. Grinberg sagt jedoch: «Der Effekt lässt sich nicht in Dollar oder Tonnen messen. Die Zahlen widerspiegeln die Geschichte nicht.»

Zwar machten ausländische Flugzeuge nur 13 Prozent der sowjetischen Luftwaffe aus. «Aber die Sowjets erhielten Qualitätsprodukte: Flugzeuge mit Aluminiumrahmen, alle ausgerüstet mit schlagkräftigen Waffen und exzellenten Funkgeräten. Der Zugang zu dieser moderneren Technologie war auch entscheidend für die Entwicklung der sowjetischen Flugzeuge nach dem Krieg», sagt Grinberg. Für ein neues Buch hat er die Beteiligung von Lend-Lease-Flugzeugen in entscheidenden Luftschlachten über der Ukraine 1944 untersucht: «Der Anteil betrug 30 bis 100 Prozent.»

Besonders gross war der amerikanische Beitrag auch bei den Transportfahrzeugen. Über 400000 Stück erhielt die Rote Armee, während die heimische Produktion nur etwa halb soviel herstellte. Der in Iran zusammengebaute und über die Kaukasus-Region gelieferte Lastwagen Studebaker US6 wurde gar zur Legende.

Krieg in der Ukraine: Lend-Lease und die US-Räder der Roten Armee (2)

Wegen seiner Robustheit, Zuverlässigkeit und Zugkraft galten die amerikanischen Fahrzeuge in Diensten der Sowjets bald als «die Räder der Armee». Die «Studer» transportierten nicht nur Waren und Soldaten, sondern auch über 20000 Mehrfachraketenwerfer des Typs Katjuscha – auch Stalinorgel genannt. «Dadurch wurde die sowjetische Artillerie wahrhaftig mobil», heisst es in einem älteren Beitrag des russischen Fernsehsenders NTW.

Auch in anderen Bereichen dürfte die Lend-Lease-Hilfe beträchtlichen Anteil am sowjetischen Vormarsch auf Berlin gehabt haben. Wie Radio Free Europe berichtete, lieferten die USA über ein Drittel der Sprengstoffe, welche die Sowjetunion während des Kriegs verbrauchte. Das von Washington ausgehändigte Kerosin entsprach 57 Prozent der sowjetischen Produktion. Eine grosse Rolle spielten auch Lebensmittel: Zu Beginn des Jahres 1943 etwa lieferte Washington knapp ein Fünftel der von der Roten Armee verbrauchten Kalorien. Gemeinsam mit Grossbritannien deckten die USA während des Krieges zudem 55 Prozent des Bedarfs an Aluminium und 80 Prozent der Kupfernachfrage in der Sowjetunion ab.

Stalin: «Wir hätten den Krieg verloren»

An der berühmten Konferenz in Teheran soll Josef Stalin 1943 einen Trinkspruch auf das Lend-Lease-Programm ausgesprochen haben: «Die USA sind ein Land von Maschinen. Ohne die Maschinen, die wir durch Lend-Lease erhalten haben, hätten wir den Krieg verloren.» Der spätere sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow bestätigt diese Einschätzung in seinen Memoiren: «Hätten die USA uns nicht geholfen, hätten wir den Krieg nicht gewonnen.»

Rund 80 Jahre später hat ein amerikanischer Präsident, der auch keine eigenen Soldaten in den Krieg schicken will, erneut ein Lend-Lease-Gesetz unterzeichnet. Diesmal hilft es allerdings der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern, die von Russland bedroht werden. Im Wissen der grossen Symbolik unterschrieb Joe Biden das Dokument am 9.Mai. Der bisherige Kriegsverlauf macht deutlich, wie sehr Russland seine eigene militärische Stärke überschätzt und die Überlegenheit der westlichen Waffen in den Händen der Ukrainer unterschätzt hat. Ein Grund dafür scheint auch die verzerrte Erinnerung an einen gloriosen Sieg im Zweiten Weltkrieg zu sein, in der den Alliierten nur eine Nebenrolle zugedacht wird.

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Markus Ackeret, Moskau

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